T. Baumann: Das helvetische Parlament

Titel
Das helvetische Parlament. Parlamentarismus im Lichte des Gegensatzes zwischen aufgeklärter Bildungselite und revolutionären Patrioten


Autor(en)
Baumann, Thomas
Erschienen
Genève 2013: Editions Slatkine
Anzahl Seiten
211 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sebastian Brändli

Rolle und Bedeutung der Helvetischen Periode und der darauffolgenden Umwälzungen sind in der Schweizer Geschichte noch immer umstritten. Einmal ist offen, ob die Umwälzungen der Helvetischen Revolution als vornehmlich endogen oder exogen verursacht beurteilt werden: Einer exogenen Begründung hinge sozusagen der Makel des Imports oder gar der französischen Kolonialisierung an, die endogene Erklärung allein vermag allerdings auch nicht recht zu überzeugen – zu schwach scheinen die inneren Reformkräfte gewesen zu sein. Dann ist ideengeschichtlich umstritten, woher die staatsrechtlichen Einflüsse kamen – während bei der Helvetischen Verfassung die französische Herkunft ja noch einigermassen plausibel erscheint, sind die Einflüsse bei den Regenerationsverfassungen umso umstrittener. Und drittens ist die Frage des Einflusses der Helvetischen Periode auf die nachmaligen erfolgreichen Umwälzungen der Regeneration und des Bundesstaates strittig, da viele die Bedeutung der Helvetik abschwächen, um mit deren Kinderkrankheiten – Kinderkrankheiten des Liberalismus – nicht dessen nachmalig erfolgreiche Durchsetzung zu infizieren. Vor allem der letzte Kritikpunkt wirkte in der Phase der liberalen Geschichtsschreibung Ende des 19. Jahrhunderts polarisierend: Die einen schätzten die Helvetische Epoche als Mutter der erfolgreichen liberalen Bewegung hoch und andere vernachlässigten diese Frage, um eben die Infektionsgefahr klein zu halten. Die konservative Geschichtsschreibung interessierte sich für die Helvetik ohnehin nur als Geschichte der französischen Eroberung und Unterdrückung beziehungsweise als Geschichte des (v.a. Innerschweizer) Widerstandes gegen die fremde Armee. Während des 20. Jahrhunderts verschwand das Interesse für die wenig erfolgreiche, mehr und mehr als dysfunktional empfundene Episode weitgehend.

Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts erwachte die Neugierde erneut. So führte Rudolf Braun die Schweizergeschichte vom ausgehenden Ancien Régime endlich bis zur Helvetischen Revolution, und die Generation nach Braun begann schon Anfang der 1990er Jahre eine gross angelegte Neuinterpretation. Das gilt vor allem für Christian Simon und André Schluchter als Initianten und Herausgeber des Dossiers Helvetik. Und auf das 200-Jahr-Jubiläum der Helvetischen Revolution hin wurden mehrere Forschungsprojekte und sogar kleinere Forschungsprogramme lanciert, die hauptsächlich in die vierbändige Ausgabe Die Schweiz 1798–1998: Staat – Gesellschaft – Politik mündeten. Zur gleichen Zeit unterstützte auch Alfred Kölz mit seinem Werk zur schweizerischen Verfassungsgeschichte die Interpretation, wonach Helvetik und liberale Bewegung eng verbunden waren, und beide letztlich als Resultanten von amerikanischen und französischen Impulsen interpretiert werden können. Wichtige Anstösse zum Wandel der Helvetik-Perzeption stammen zudem von Holger Böning.

Der Hauptteil der genannten jüngeren Beiträge zur Geschichte der Helvetik galt der Sozialgeschichte, vor allem der Einbettung der helvetischen Verhältnisse in den grösseren Wandel vom Ancien Régime zur modernen Gesellschaft und zum Bundesstaat. Wenig neue Studien und Erkenntnisse galten der helvetischen Staatlichkeit. Zwar berührte der den konstitutionellen Verhältnissen gewidmete Beitrag von Kölz auch staatliche Fragen. Die pionierhaften und komplizierten Auseinandersetzungen der ersten zwei Jahre und die anschliessenden Hin- und Herbewegungen der vier Staatsstreiche und der folgenden Mediation als Geschichte der Innenpolitik sind indessen noch nicht geschrieben.

Seit langem gilt die Untersuchung der Funktionsweise des helvetischen Parlaments mit Grossem Rat und Senat zwischen 1798 und 1800 als Geheimtipp. Schon Rudolf Braun regte an, die Zusammensetzung dieser Behörde nach den Ansätzen der Kollektivbiographie – nach dem Vorbild von Charles Beard1 – ökonomisch zu untersuchen, das heisst, insbesondere in der Frage der Ablösung der Feudallasten eine ökonomische Interpretation zu wagen. Nun legt Thomas Baumann eine publizierte Masterarbeit vor, betreut von André Holenstein (Universität Bern), die wichtige Elemente dieses Forschungsprogramms aufnimmt und eine eigenständige Interpretation vornimmt. Baumann konzentriert sich dabei auf drei wichtige Punkte: die Funktionsweise der Räte (insbesondere Analyse der Geschäftsordnung), eine Kollektivbiographie und die Behandlung dreier politischer Themen (Patriotenentschädigung, Feudallastenabschaffung, Verfassungsdebatte).

Von grossem Interesse ist der erste Punkt, eine Analyse der Funktionsweise des helvetischen Parlaments. Bis auf wenige, immer wiederkehrende Stereotypen war dieses Thema bisher unbeachtet. Wer weiss, wie unterschiedlich Parlamente funktionieren können, wie unterschiedlich sie sich zur jeweiligen Regierung (Exekutive) im Rahmen der Staatsleitung respektive der Gewaltenteilung stellen können, und welche Selbstblockaden zuweilen möglich sind, muss sich um diese Frage kümmern, um «der Politik der Helvetik» nur ansatzweise gerecht werden zu können. Baumann ist auf die Suche nach dem Geschäftsreglement gegangen – es ist in der grossen Quellensammlung zur Helvetik von Strickler nicht enthalten – und hat dieses nach Auffinden im Staatsarchiv Basel erfolgreich analysiert (S. 167). Selbstverständlich reicht die Kenntnis des Reglements nicht, um die grossen institutionellen Fragen der Staatsleitung beziehungsweise der Gewaltenteilung vollends zu durchdringen. Eine gute Basis für weitere Untersuchungen ist jedoch gelegt.

Der Anspruch einer Kollektivbiografie ist beim derzeitigen Stand der Dokumentierung für den gesamten Rat schwierig einzulösen. Viele der Mitglieder treten nur für ihre politischen Funktionen für kurze Zeit aus dem Dunkel der Geschichte, um dann wieder, ohne weitere Spuren zu hinterlassen, zu verschwinden. Andere Exponenten sind zwar generell bekannt, für den betreffenden Untersuchungszeitraum gibt es zu ihnen aber auch nur wenige Informationen. Die vorgelegten Analysen beziehen sich so zwar auf wichtige Merkmale wie Alter, geographische Herkunft und Berufe, leider aber nicht auf zusätzliche politische oder wirtschaftliche Informationen wie beispielsweise Zugehörigkeit zur politischen Elite schon vor 1798 (Kontinuität versus Diskontinuität) oder zum wirtschaftlichen Stand (v.a. Vermögen und Besitz an Boden). Solche fehlenden Kriterien wären zweifellos schwieriger zu erheben und zu interpretieren gewesen, sie hätten aber mehr Verbindungen mit den behandelten politischen Themen erlaubt. Doch auch in dieser Frage gibt die Arbeit eine solide Grundlage für weitere Forschung.

Die drei vom Parlament behandelten und vom Autor ausgewählten Themen stammen hauptsächlich aus dem Jahr 1798. Die Entschädigung der im ausgehenden Ancien Régime verfolgten Patrioten war zu Beginn der Parlamentsarbeit ein politischer Brennpunkt sondergleichen. In der aufgeladenen Situation der Helvetischen Revolution war es insbesondere der siegreichen Seite der Patrioten ein grosses Anliegen, das in ihren Augen grosse Unrecht, das ihren Gesinnungsgenossen durch die alten Regierungen widerfahren war, wieder gutzumachen. Diese Stimmung kennzeichnete vor allem die Diskussion im Grossen Rat; im Senat dagegen obsiegten die Zweifel, insbesondere betreffend die Frage «des wahren Patrioten» (S. 85). Das Geschäft landete so auf der langen Bank und blieb bis Ende 1799 unvollendet – nicht zuletzt deshalb, weil es für die junge Republik noch wichtigere Geschäfte gab als diese «Indemnisation». Wichtiger für die junge Republik war die Frage der Finanzierung, und innerhalb dieses Themas die Frage der Aufhebung der Feudallasten. Doch trotz dieser grösseren Relevanz war es um dieses Thema nicht besser bestellt. Auch hier standen sich die Sichtweisen der beiden Parlamentskammern zum Schluss diametral gegenüber, und auch hier waren innerhalb der Kammern viele unterschiedliche Ansichten auszumachen. Insbesondere die Frage der Staatsfinanzierung und die Frage der Rechtmässigkeit der Abgaben liessen ganz unterschiedliche Interpretationen der hängigen Fragen zu, so, dass zwar bereits im August 1798 ein (erster) Entscheid feststand, allerdings ein ablehnender. Sehr instruktiv ist auch das dritte gewählte Thema, die Verfassungsdebatte. Die französisch geprägte Einheitsverfassung der Helvetischen Republik war auch vielen Neugesinnten ein Dorn im Auge. Es erstaunt deshalb nicht, dass bereits am 13. April 1798, am ersten Tage nach der Konstituierung von Republik und Parlament, ein Abänderungsantrag betreffend die Verfassung gestellt wurde (S. 119). Baumann gibt den Debatten hierüber grossen Kredit und meint, die Verfassungsdebatte habe vor allem zum Ziel gehabt, konstitutionelle Verbesserungen zu erreichen. Gelähmt wurde dieses Vorhaben indes durch die Unsicherheit, ob Frankreich Änderungen überhaupt zulassen würde (S. 143). Ihre Kulmination fand die Debatte aber erst, nachdem die erste vom 12. April 1798 bereits faktisch ausgehebelt war, in der Diskussion für den Verfassungsentwurf vom 5. Juli 1800. Da war es für eine konstruktive Weiterführung aber bereits zu spät.

Die Studie von Thomas Baumann löst ein altes Desiderat auf elegante Weise ein. Zwar konnten im Rahmen einer Masterarbeit nicht alle Elemente, die für die soziopolitische Einordnung der helvetischen Errungenschaften und Versäumnisse wichtig sind, thematisiert werden. Dennoch wurde ein wichtiger Beitrag für die politische und soziale Geschichte der Helvetischen Republik vorgelegt, der hoffentlich zu weiteren Forschungen anregt.

1 Charles A. Beard, An Economic Interpretation of the Constitution of the United States, New York 1913.

Zitierweise:
Sebastian Brändli: Rezension zu: Thomas Baumann, Das helvetische Parlament. Parlamentarismus im Lichte des Gegensatzes zwischen aufgeklärter Bildungselite und revolutionären Patrioten, Genève: Slatkine, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 110-112.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 110-112.

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